Katrin Balder

Unter ihrer Flagge durch die Stadt


Eigentlich wollte sie nur in die Bibliothek fahren, um sich auf die Abschlussprüfungen ihres Studiums vorzubereiten. Doch es kam anders, denn schon dicke Regentropfen begleiteten sie auf ihrem Weg. Als Katrin Balder die Bibliothek für Frühmittelalter erreicht, steht diese schon voll mit Wasser. Wasser, dessen Kraft schon den Estrich durchbrochen hatte und die Steckdosen Funken sprühen ließ. Sie kappte die Hauptstromleitung und begann, gegen die Wassermassen zu kämpfen, indem sie Eimer für Eimer befüllte. Kurze Zeit später bot ihr die Fensterfront der Bibliothek einen spektakulären Blick auf das sich vor ihren Augen ereignende Schauspiel der ringsum einschlagenden Blitze.

Angst verspürte Katrin Balder dabei nicht wirklich. „Für mich ist es selbstverständlich, dass man hilft, wenn so etwas passiert.“ Sie schaltete ihren Computer ein und meldete sich bei der Facebook-Gruppe ‚Regen in Münster‘ an. Schnell begriff die 30-Jährige, dass dieser starke Regenfall von einer anderen Größenordnung war als üblich. Als das Jucken eines entzündeten Mückenstichs an einer alten OP-Narbe am Knie sie nicht mehr in Ruhe ließ, beschloss sie zu gehen. Zuhause angekommen wirft sie erneut einen Blick in die Facebook-Gruppe und ist erstaunt, denn mehrmals in der Minute tauchten in der Gruppe neue Kommentare und Hilferufe auf, darunter auch welche aus ihrer Wohnsiedlung.  Der Kampf gegen das Wasser ging weiter. Wieder befüllte Katrin Balder einen Eimer nach dem anderen und stand teilweise hüfthoch im Wasser. Als Tochter eines Pastors lernte sie schon früh mitzuhelfen, ganz nach dem Motto: ‚wenn nicht du, wer dann?‘ Die Arbeit ging nicht spurlos an ihr vorbei. Am nächsten Morgen war ihr Knie blau, angeschwollen und entzündet. Unmöglich, wieder körperliche Hilfsarbeit zu leisten. Dennoch konnte Katrin Balder sich nicht einfach ausruhen, denn ihre Willenskraft war stärker als jeder einzelne Wassertropfen der vom Himmel fi el. Sie rief die Facebook-Gruppe erneut auf und beschloss, ihre Freunde und Bekannten den Hilferufen entsprechend zu lotsen. Aus 20 wurden 150 und letztendlich 3.000 Menschen, die unter der Flagge von ‚Regen in Münster‘ durch Münster fuhren. Ihr Wohnzimmer verwandelte sich dementsprechend in eine Koordinationszentrale, die ebenfalls an Zuwachs gewann, denn die Anzahl der Anrufe und Nachrichten überstieg bei weitem die logistische Organisation, die alleine hätte bewältigt werden können. Das Ausmaß der Katastrophe wurde immer sichtbarer und nachdem dann auch die Zeitung die Nummer des Notfalltelefons abdruckte, war an Ruhe nicht mehr zu denken. „Es war ein unfassbarer Anstieg an Anrufen, der die Sommernächte noch kürzer werden ließ“, erinnert sich Katrin Balder. 20 Stunden Arbeit und vier Stunden Schlaf waren keine Ausnahme. Noch heute ziert der Stadtplan Münsters, auf dem die einzelnen Gebiete je nach Betroff enheit in Pink oder Gelb umkreist wurden, ihre Wohnzimmerwand. Katrin Balder verlor in der Zeit jeglichen Blick auf sich selbst, denn die Koordination der Helfer und die ständige Erreichbarkeit kosteten viel Energie. Täglich packten hunderte Menschen mit an und die Arbeit hat „uns alle sehr nackt gemacht“, sagt sie rückblickend, „es gab einfach keinen Platz für Egoismus.“ Das vielseitige Engagement war jedoch nicht ohne Begleiterscheinungen. In der ganzen Stadt standen Türen und Fenster auf, und das zog automatisch Plünderer an. Teilweise tarnten sich diese als Helfer und „räumten hintenrum dann die Butze leer, auch unsere Helfer wurden bestohlen“, erinnert sich Katrin Balder. Heute sind es nicht die Regentropfen oder aufgetürmten Sperrmüllberge entlang der Straßen, an die sie zurückdenkt. Es ist der Ausdruck in den Augen der betroff enen und helfenden Menschen - eine Mischung aus Müdigkeit, Leid, und vor allem dem Bewusstsein, dass mehr verloren gegangen ist als nur der materielle Wert. Sie ist dankbar dafür,  dass sie nicht der einzige „Engel im Dreck ist“, sondern dass es viele weitere Menschen gibt, die ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um anderen zu helfen. Katrin Balder hat durch ihren unermüdlichen Einsatz nicht nur die Wassermassen in Münster bewegt, sondern vor allem die Menschen, die vom Schicksal getroff en wurden und für die sie ein off enes Ohr hatte. „Ich würde es genauso wieder machen, möglicherweise etwas anders, durch die dazugewonnene Erfahrung, aber ich würde erneut an den Rand der Erschöpfung gehen. Ich kann einfach nicht anders.“

Julia Minner